Die Fundamentalkritik der Sahra Wagenknecht an ihrer Partei
Ein Gastbeitrag von Kurt Rohmert
Eigentlich wollte Sahra Wagenknecht, die frühere Fraktionschefin der Linken, als Spitzenkandidatin wieder in den Bundestag. Doch unmittelbar vor der Wahl wurden Teile ihres neuen Buches „Die Selbstgerechten“ bekannt. Einstige Weggefährten und Parteimitglieder deuteten das Buch als Kampfansage gegen die eigene Partei. Eine scharfe Diskussion folgte. Ihre Gegner erklärten sie für „nicht mehr tragbar“, forderten sie gar zum Verzicht auf eine Kandidatur auf. Doch auf der Abstimmung in Essen wurde sie mit 61% als Nr.1 der Landesliste wiedergewählt.
Es gärt schon lange
„Ein Buch mit steilen Thesen hat einen schwelenden Konflikt innerhalb der Linkspartei zum Kochen gebracht“, stand in der früheren Parteizeitung Neues Deutschland zu lesen. Was ist das für ein Konflikt, was hat die einst beliebteste deutsche Politikerin (2019) damit zu tun?
Um die Zusammenhänge zu verstehen, muss man sich mit der Vergangenheit der Partei auseinandersetzen. Die Wurzeln der Linken liegen in der KPD, die 1918 von radikalen Gruppen gegründet wurde, um in Deutschland ein stalinistisches System zu errichten. Die mehrfach umbenannte Die Linke ist auch Nachfolgepartei der SED, deren Diktatur in der DDR bis 1989 dauerte. Nach ihrer Entmachtung drohte sie fast unterzugehen und verbündete sich mit der WASG aus dem Westen. Heute wird von vielen Genossen deren SED-Mitgliedschaft gern unterschlagen und die DDR nicht als Unrechtsstaat verurteilt, vermeintliche „Errungenschaften“ dagegen sogar gern gelobt.
In Berlin, wo die Linke an der Regierung mitbeteiligt ist, lässt sich gut erkennen, wie die Stadt in Richtung Sozialismus umgebaut wird. Es ist aber nicht nur die Vergangenheit und der Ost-West-Konflikt. Große Vorsitzende haben sich verabschiedet: Bisky, Gysi und Lafontaine. Neben der Parteispitze um Kipping und Riexinger bildete sich ein neues Machtzentrum um die redegewandte Sahra Wagenknecht. Mit steigender Popularität wuchsen die Spannungen, besonders gegenüber Parteichefin Katja Kipping.
Innerparteilich entstand ein strategisches Dilemma. Nachdem Sahra Wagenknecht die Flüchtlingspolitik der Regierung und der eigenen Partei heftig kritisierte, wuchsen zwangsläufig die inhaltlichen Unterschiede zwischen Partei und Wagenknecht. Die Kontroverse gipfelte in starken Vorwürfen ihrerseits zum innerparteilichen Umgang miteinander. Manche nannten es Kräftemessen, andere sprachen offen von Machtkampf. Neben dem Streit um grundsätzliche Positionen war es letztendlich das brisante Projekt „Aufstehen“, was den Konflikt so unerträglich steigerte, dass Wagenknecht sich 2019 zu einem Rückzug als Fraktionschefin genötigt sah.
Abrechnung mit der eigenen Partei?
Die einstige Ikone der Partei eckt seit Jahren bei ihren Parteigenossen immer wieder an. Ja, sie ist eine Ausnahmepolitikerin, ja, sie hat ihre ideologische Vergangenheit (Kommunistische Plattform) aufgegeben, aber trotzdem ist sie ihrer Linie treu geblieben. Das ist, was sie so beliebt macht, die Nähe bei den Wählern, bei den Menschen, besonders bei den Schwächsten der Gesellschaft.
Es scheint ein unbeugsamer Wille zu sein, die Dinge beim Namen zu nennen. Auffällig ist auch, wie mutig sie ihre politischen Werte gegen die Ideologie der Genossen verteidigt. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Schwäche der gesellschaftlichen Linken, ihre klassische Klientel nicht mehr zu vertreten. Zwangsläufig wanderten die Wähler ab. Die Verursacher nennt sie in ihrem Buch polemisch die „Lifestyle-Linken“. Verständlich, dass diese auf das Buch und die Thesen genervt reagieren, werden sie doch als intolerant, Moralisten ohne Mitgefühl, Bessergestellte, die ausschließlich eigenen Interessen folgen, bezeichnet. Folglich auch der Titel des Buches „Die Selbstgerechten“.
Doch es sind weitgehend andere Passagen, die Unmut unter ihren Gegnern erzeugen. Sie warnt vor den radikalen linken Studenten, die schon die SPD unterwanderten, sie warnt vor illegaler Einwanderung, vor Parallelgesellschaften und anderen Kulturen, vor Verdrängung der Einheimischen. Ihr eigenes Programm (ab S. 205) bevorzugt Werte wie Nation, Leitkultur und selbstverständlich auch soziale Gerechtigkeit. Diese basiert bei ihr aber auf einer Leistungsgesellschaft. Der Schutz von Unternehmen und Wirtschaft gegen eine hemmungslose Globalisierung stößt in der Partei naturgemäß auf Unverständnis, die Absage an die Klimapolitik (wegen der CO2 Steuern) besorgt den Rest.
Die Kontroverse
Die heftige innerparteiliche Kritik kochte kurz vor der Abstimmung in Essen hoch, als es um die Kandidaten zur Bundestagswahl ging. Irgendwie sind noch vor Ende der Sperre Passagen aus dem Buch bekannt geworden. Da nutzte es wenig, wenn Wagenknecht sich damit verteidigte „ Mein Buch rechnet nicht mit der Linken ab „ und dass das Buch doch neue Vorschläge für eine stärkere Linke enthalte. Ihre Gegner, meistens dieselben wie damals 2018, versuchten mit allen möglichen Manövern ihre Kandidatur zu verhindern.
Da wirkte ihre Feststellung fast hilflos „ So dürfe man nicht miteinander umgehen. “ Wie sah der Umgang aus? Außer den vielen Verbalattacken forderte der Parteivorstand umgehend den Verzicht auf ihre Kandidatur und auch den Parteiaustritt. Man beklagte, dass Wagenknecht nicht mehr die Grundwerte der Partei vertrete. Das Internet lief über, fast jeder meldete sich, meistens waren es böse Beschimpfungen. Da werden Erinnerungen wach, so begann auch das Sarrazin-Debakel der SPD.
Der Wortführer
Dem Abgeordneten Niema Movassat (Oberhausen, MdB) hatte es besonders die Sprache verschlagen. Es war Movassat, der schon 2018 Wagenknecht und ihre Sammlungsbewegung nicht nur heftig kritisierte, sondern Wagenknecht zum Rückzug aufforderte. Dieser Movassat, Eltern sind Iraner, hatte vor allem ein Problem mit ihrer restriktiven Migrationspolitik. Wieder einmal. Die Ursache scheint ein Spruch von 2016 zu sein. Nach der Kölner Sylvesternacht machte sie sich unbeliebt mit „ Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht eben auch verwirkt. “
Noch grösser eskalierte die Empörung wegen anderer Vorwürfe. Es geht um die Bewegungen, mit denen sich die Linke eng verbunden fühlt. Die charismatische Wagenknecht kritisiert offen die bedingungslose und unreflektierte Unterstützung von Aktivisten wie BlackLivesMatter oder FFF, aber auch Unteilbar (Forderung: offene Grenzen). Für die eloquente Buchschreiberin sind das „ lächerliche Wohlfühlbewegungen von Bürgerkindern “. Ihm missfallen besonders die kritischen Passagen zur Identitätsdebatte “ Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu lenken, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte (also: sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Ethnie) finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein. „
Daher steht für Movassat fest „ Wer das Buch von Sahra Wagenknecht liest, kann nur zu einem Schluss kommen: Sie befindet sich in einem regelrechten Feldzug gegen die eigene Partei. „ Ja es stimmt, sie greift die Parteilinie an, wenn sie die EU als unbrauchbare Agentur des Neo-Liberalismus tituliert und daher rückbauen möchte, wenn sie ein Loblied auf den Nationalstaat anstimmt, wenn sie die derzeitige Migration ablehnt, wenn sie eine Vergangenheit mit Tugenden wie Arbeitsethos, Gründlichkeit, Zurückhaltung und Disziplin lobt. Hier zeigt sich schon eine deutliche Schnittmenge mit rechtskonservativen Thesen.
In der taz war zu lesen „ Folgen wir der Ex-Chefin der Linksfraktion, dann blockieren Minderheitenpolitik und eine Horde Moralapostel, die die Grünen, die SPD und auch die Linkspartei gekapert haben, eine erfolgreiche gesellschaftliche Linke. “ Das nimmt man der Autorin sehr übel. Besonders die, die „ ihr Augenmerk auf skurrile Minderheiten richten, denen es nicht um Gleichstellung sondern mittlerweile um Privilegierung von Minderheiten gehe. “ Sie nannte es „Heiligsprechung von Ungleichheit“ .
Unterstützung
Unterstützung erhielt Wagenknecht von ungewohnter Seite. So schrieb der Bürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, auf Facebook „@Wagenknecht hat wieder Recht.“
So schon 2018. Ich erinnere daran, dass sie damals viel Anerkennung von Frauke Petry erhielt, die viele Parallelen zwischen sich und Wagenknecht erkannte. Aber auch schon vorher (2016) fand eine linke Sahra Wagenknecht bei Frauke Petry (damals noch AfD) Zustimmung „ Ich habe Sympathie für viele ihrer Positionen, vor allem in der Migrationspolitik “ anlässlich eines gemeinsamen Interviews bei der FAS, damals sogar Konsensgespräch genannt.
Bei der Beurteilung des Buches neige ich aber zu der Feststellung, dass Wagenknecht in Bezug auf ihre Genossen irrt. Die politische Richtung hat sich beileibe nicht geändert, die Linke ist heute wie damals die Partei der sozialistischen Diktatur. Seit einigen Jahren hat diese Ideologie leise eine Renaissance erfahren, verstärkt durch SPD (Jusos), Grüne und andere Aktivisten (System Change). Auch wenn der Knall vorerst ausgeblieben ist, es brodelt in der Parteiführung sowie den Kreisverbänden. Der Richtungsstreit ist noch nicht zu Ende. Ihre Thesen entsprechen zwar der Vernunft und basieren auf richtigen Analysen. Aber die vernünftigen Erkenntnisse passen nicht zu Sozialisten und werden weiterhin den Konfrontationskurs begleiten.
Es könnte sie das Schicksal wie viele andere treffen. Sie monierte im Buch die Cancel Culture, die an Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten sei. Warum sollte die Partei ihr gegenüber fair sein. Das war sie damals in der DDR auch nicht.
Man könnte zum Schluss kommen, Wagenknecht will wieder das Deutschland unter Willy Brandt (Christian Bartlau auf ntv). Diesem Gedanken schließe ich mich an.