Polen demonstriert
Polen hat seine Straßen in den letzten Jahren autofreundlich restauriert, ohne zu ahnen, dass sie 2016 in den Städten wieder von demonstrierenden Menschen bevölkert werden würden.
Der Wahlsieg der konservativen PiS-Partei im letzten Jahr sorgte für helle Aufregung erst in Deutschland, dann erst im Wahlland. Auch Brüssel runzelte die Stirn und lauschte der Rede der neuen Ministerpräsidentin Szydlo im EU-Parlament Anfang des Jahres, als sie mit sicheren Worten jede Skepsis und Kritik von sich wies. Sie sei Europäerin, aber vor allen Dingen stolze Polin.
Die seit November amtierende national-konservative Regierung hatte mit einer umstrittenen Justizreform und einem neuen Mediengesetz international Kritik auf sich gezogen.
Familienpolitik 500 Plus
Vielleicht sollte aber auch einmal ein Auge auf das große Sozialprojekt dieser Partei geworfen werden, das am 1. 4. 2016 für die Nachbarländer unbemerkt in Kraft trat. Ich erfuhr in Polen vom Programm „500 Plus“, das endlich da ansetzt, wo der Schuh vieler Wähler drückt, bei den Kindern und Familien.
Ab dem zweiten Kind zahlt der Staat ein Kindergeld
von pro Kind 500 Zloty. Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter 800 Zloty erhalten das Geld schon ab dem ersten Kind. Ebenso Familien mit einem behinderten Kind und einem Pro-Kopf-Einkommen von unter 1.200 Zloty. Dieses nicht gerade sozial abgesicherte Land begibt sich damit auf einen revolutionären Weg. „Mit Speck fängt man Mäuse“, kritisierten Gegner, Medien und die intellektuelle Oberschicht, womit die Überheblichkeit zum Vorschein kam, mit der die selbsternannte „moderne“, „europäische“, „aufgeklärte“ Oberschicht dem gemeinen Volk im Lande begegnet. Ihr wichtigstes Medium, die linksgerichtete Zeitung „Gazeta Wyborcza“, zitierte da beispielsweise den Schriftsteller Wojciech Kuczok: „Recht und Gerechtigkeit hat die Proleten auf dem kürzesten Weg erreicht. Sie hat ihnen jeden Monat fünf Hunderter auf die Hand versprochen für weitere Wodkaflaschen als Belohnung für ihren Fortpflanzungseifer.“
Die Journalistin Joanna Woleńska-Operacz, Mutter von drei Kindern, antwortete darauf in der katholischen Wochenzeitung „Niedziela“:
„Wieviel Wodka kann man für eintausend Zloty kaufen? Ich habe beschlossen das nachzurechnen, denn als ein verkommenes, sich ungezügelt vermehrendes Element werde ich schon bald jeden Monat eben diese Summe bekommen, und wie man weiβ, werde ich sie für Wodka ausgeben. Bin deswegen extra in einen Schnapsladen gegangen, und weiβ jetzt Bescheid. Der billigste halbe Liter kostet 17,99 Zloty. Ich und mein Mann werden also im Monat gut 55 Flaschen Wodka trinken, nicht ganz zwei am Tag. Das wird hart, aber es führt kein Weg dran vorbei, denn es gilt Erwartungen nicht zu enttäuschen.“
Tusk – liberal, europäisch, kinderlos
Die Löhne in Polen sind niedrig. Der Durchschnittsverdienst liegt bei 2500 Zloty (600 Euro). Tausende junger Menschen haben nur Zeit- und Werkverträge ohne eine Sicherheit für ihre Zukunft. Der Verzicht auf Kinder oder die Entscheidung nur ein Kind zu haben, ist die logische Folge. Irgendwann geben die jungen Paare auf und gehen ins Ausland.
Im März 2012 rutschten dem liberalen Vorgänger von Szydlo, Donald Tusk, in einem Anflug von Ehrlichkeit, die Worte heraus: „Eine Familie ohne Kinder ist billiger für den Staat.“ Die in Tusk-Polen mit 23% Mehrwertsteuer belegten Kinderwagen und die mit nur 8% Mehrwertsteuer belegten Särge signalisierten ohnehin nur allzu deutlich, wohin die Reise ging.
Andrzej Duda – konservativ, christlich, kinderreich
Gespalten bleibt das Land, das sich als eines der größten Nettoempfänger mit jährlich 13,7 Milliarden Euro nicht seiner Europa-Zugehörigkeit entziehen kann. Über 200.000 Bürger gingen Anfang Mai in Warschau auf die Straße, um gegen die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu demonstrieren. Und vor allem dagegen, dass deren Vorsitzender Jarosław Kaczyński Polen immer weiter von Europa entfernt.
In Anspielung auf die Absage Warschaus an die Aufnahme von Flüchtlingen sagte Kaczynski: „Eine Situation, die die Sicherheit unserer Bürger – der Polen und vielleicht besonders der Polinnen – bedroht und die die moralische Ordnung missachtet, lehne ich ab. Diejenigen, die in Polen sein wollen, müssen diese rechtliche und moralische Ordnung als die ihre betrachten.“
Auch der polnische Außenministers Witold Waszczykowski fand deutliche Worte: „Wir wollen lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen (…). [Es] wurde unter der Vorgängerregierung ein bestimmtes linkes Politikkonzept verfolgt. Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen, polnischen Werten nichts mehr zu tun“.
Die deutsch-polnische Freundschaft wurde aufs Abstellgleis geschoben. Doch eine Gemeinsamkeit haben sie: In jedem der beiden Länder lebt ein gespaltenes Volk.