Erst ich (Polen), dann du (Europa)
Martin Schulz, der das Vorgehen in Polen als „Putinisierung“ bezeichnete, bewies damit, dass er von der polnischen Seele und ihren bis heute andauernden, zum Teil sogar gewollten Schmerzen keine Ahnung hat. Aber man kann ihm keinen Vorwurf machen, denn ein deutscher Politiker meiner Generation, der es zu einem Amtssitz im Europäischen Parlament hat, hat wie ich nach dem Krieg keine deutsche Identität erlangen dürfen und dann glücklicherweise als politischer Einsteiger in Europa endlich eine europäische nachträglich ausbilden können.
Ein solcher Mann kann keinem Polen dieser Welt mit seiner über alle Grenzen reichenden nationalen Identität das Wasser reichen. Ob polnischer oder deutscher Papst, ob gefüllte oder geschlossene Kirchen, ob Opferrolle oder Täterprofil, ob Selbstbewusstsein oder Schuldkomplex, ob nehmend oder gebend, ob europaskeptisch oder europafreundlich…nichts deutet darauf hin, dass Polen postkommunistisch gestern, heute oder morgen als überzeugte Europäer in Brüssel anzutreffen wären. Sie sind und werden noch in tausend Jahren erst einmal Polen sein, heute ein bisschen europäisch, morgen ein bisschen amerikanisch, aber immer antirussisch. Josef Pilzudski, Polens Identitätsgeber 1918, der sein Land wieder auf die Weltkarte zurückholte und sowohl den Russen als auch den Deutschen die Stirn bot, ist historische Leitfigur und Begründer einer großen politischen Leitkultur. Über ihm steht nur eine geistige Instanz, Papst Johannes Paul II., durch die eine echte Trennung von Staat und Kirche lange nicht erfolgen wird. Kaczynski schob zwei junge Konservative ins Zentrum seiner Einflussnahme und in die Wahl, Andrzej Duda und Beata Szydlo, die ihren Lehrmeister aufs Podium der Macht für national-konservatives Gedanken zurückholten. Schließlich hatte er schon einmal zusammen mit seinem verstorbenen Bruder zwei Jahre lang den Duft der Macht (2005 bis 2007) geatmet.
Die Polen lieben große Gesten und Verschwörungstheorien. Und am liebsten haben sie es, wenn sie beides miteinander verbinden können. Das gelang ihnen mit dem Flugzeugabsturz in Russland, bei dem Polens Präsident Lech Kaczynski nicht einfach nur ums Leben kam, sondern wahrscheinlich einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Beweise sind für streng gläubige Polen nicht von Belang, denn schließlich kommt ihr katholischer Glaube auch ohne konkrete Beweise aus. So wie Pilzudski neben den polnischen Königen auf dem Krakauer Wawel seine letzte Ruhe fand, musste auch der Held der Gegenwart, Lech Kaczynski dort begraben werden. Das hat sein Zwillingsbruder Jaroslaw, heutiger Drahtzieher der polnischen „Rückfallpolitik“, so verfügt.
Auf die Frage an die „freie“ Journalistin Aleksandra Rybinska im Internationalen Frühschoppen vom 26. 1. bei Phoenix zum Thema: „Merkel allein zu Haus – Scheitert Europa an Deutschland?“, warum sich Polen nicht solidarisch erkläre mit Merkels humanitärer und notwendiger Flüchtlingspolitik und Deutschland nicht zu Hilfe eile, bekam der Frager die Antwort, dass ja auch Deutschland in mehreren Punkten gegenüber Polen keine Solidarität bewiesen habe. Dazu zählte sie den noch immer nicht erfüllten Wunsch nach einer Dauerpräsenz der Nato-Streitkräfte und das Übergehen polnischer Interessen zum Thema der Gaspipeline, die damals durch eine Äußerung des Außenministers Radoslaw Skorskis in den polnischen Medien zu einem neuen Hitler-Stalin-Pakt hochgekocht worden war.
Was die Gaspipeline allerdings betrifft, spielte Polen derzeit ein falsches Spiel. Es hatte nämlich durchaus das Angebot gegeben, diese Pipeline mit einem Abzweig zu versehen, um damit auch Polen mit Gas zu versorgen, was der damalige konservative Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz zu verhindern wusste, weil er die politisch perfekt einstudierte Opferrolle Polens nicht aufgeben wollte.
Die „freie“ Journalistin Aleksandra Rybinska gab sich in der Diskussion polentypisch selbstbewusst und erweiterte Polens derzeitige Kritik an Deutschland und Merkel mit folgenden Worten: „Wir bezeichnen Merkels Flüchtlingspolitik und die Deutschen als neurotisch.“
Wen wundert es da noch, dass das polnische Magazin WPROST im Januar das Bild von Hitler mit Benito Mussolini, Feldmarschall Wilhelm Keitel und General Alfred Jodl aus der Mottenkiste hervorkramte und kurzerhand die Köpfe der führenden EU-Politiker auf die Körper der Diktatoren montierte? Die Schlagzeile zu dem Bild lautet: „Sie wollen Polen wieder kontrollieren“. Das gerade eingeleitete Prüfverfahren der Rechtsstaatlichkeit in Polen durch die Europäische Union wird zu weiteren politischen und journalistischen Ausfällen und Provokationen führen, die beim Volk durchaus auf genügend Häme und Zustimmung treffen.