Wie wir uns verschaukeln lassen
Thomas Rietzschel, Jahrgang 1951, Dr.phil., war Kulturreferent der FAZ, ist heute freier Autor und lebt in Frankfurt. Seine Sicht auf die heutige Gesellschaft beschreibt er als „Die Stunde der Dilettanten“ und bezeichnet damit Stümpertum und Dekadenz in allen Bereichen von Wissenschaft, Kultur, Bildung, Medienwelt und Politik. Begonnen hat der Niedergang, der Abstieg in die Sphären der Unfähigkeit, in den Bildungssystemen. Reformen über Reformen, die alle nicht das Wort Bildungsreform verdienten, haben über Jahrzehnte an Lehrplänen genagt, das geistige Gerüst von Kultur und Bildung zerstört und Moral und Sitte in den Papierkorb verbannt. Die sich über Jahrtausende herausgebildete christlich-abendländische Kultur versinkt gerade in den Sümpfen des Dilettantismus. Für Thomas Rietzschel Grund genug, sich diesem gesellschaftlichen Dilemma und seinen Erscheinungsformen zu widmen.
Versager, Dilettanten, Selbstüberschätzer, Alleskönner
Niemand interessiert sich für den Schaden, den ein dilettantischer Lehrer bei seinen Schülern anrichtet. Aber immer dann, wird der Dilettantismus zur Bedrohung, wenn er sich mit der Macht verbindet. Aus den einfältigen Versagern werden professionelle gefährliche Dilettanten. Wo sie erfolgreich sind, hat die Gesellschaft am Ende auszubaden, was sie in ihrer Selbstüberschätzung ahnungslos anrichten, gleich, ob sie als Banker die Einlagen ihrer Kunden verspielen,
sich als Politiker mit einer Rechtschreibreform am Kulturgut der Sprache vergreifen oder ob sie einen Rettungsschirm nach dem anderen aufspannen, weil sie meinen, einmal gemachte Schulden ließen sich mit noch höherer Verschuldung aus der Welt schaffen.
Stets wissen die Dilettanten, was sie gern wollen würden. Die Bundeskanzlerin hat das in einer ihrer Neujahrsansprachen salbungsvoll verkündet; wie sie es anstellen wollte, war dabei nicht zu erfahren. Den lieben „Bürgerinnen und Bürgern“ wurde lediglich die Fortsetzung der laufenden Inszenierung mit gleicher Besetzung in Aussicht gestellt. Alles, was bei dem letzten aufwendig zelebrierten Gipfeltreffen des Jahres 2011 herauskam, ist die Ankündigung, dass man sich 2012 auf die Einführung strengerer Regeln zur Wahrung der Haushaltsdisziplin verständigen werde.
Erinnert man sich an einen Politiker namens Philipp Rösler, Gesundheitsminister seines Zeichens. Von Haus aus Arzt, schien er wie geschaffen für das Amt, bis er plötzlich auf den Posten des Wirtschaftsministers wechselte, nicht weil sich herausgestellt hätte, dass er dafür noch besser geeignet ist, sondern weil er zum Parteivorsitzenden gewählt worden war und das glanzlose Gesundheitsministerium dieser gewachsenen Bedeutung seiner Person nicht mehr genügt hätte. Die Frage, was ihn fachlich dafür qualifiziert haben könnte, wurde nie gestellt, nicht einmal von der Öffentlichkeit, die gelernt hat, derartige Kabinettsumbildung als Normalität einfach nur hinzunehmen.
Die Dilettanten der Macht
Jeder kennt das Dilemma um den Berliner Großflughafen, die Fehlplanungen um Stuttgart21, um die Elbphilharmonie, die dilettantische Eurorettung, das Flüchtlingschaos und seine Folgen, und fragt sich, wie so etwas in unserer modernen Gesellschaft passieren kann?!
Ob an Beispielen von Joschka Fischer, Karl Theodor zu Guttenberg, Christian Wulff oder Carsten Maschmeyer, Gerhard Schröder und wie die Bildungsentleerten sonst noch so alle heißen … Rietzschel beschreibt sehr aufschlußreich, wie sich bei jedem von ihnen das unerschütterliche Selbstbewußsein des Dilettanten entwickeln konnte.
Die Dramaturgie ist immer die gleiche. Der Bürger könnte das durchschauen, wenn er wollte. Aber die Verehrung der Obrigkeit steckt uns noch immer im Blut. Die Politiker und das Volk, wenigstens große Teile des Volkes, haben sich gesucht und gefunden. Und der Dilettantismus blüht und blüht, ohne dass der Merkelversteher, der Gutmensch, der Banker, der Euroverfechter und Europa-Applaudierer in seinen Träumen gestört wird.
Dilettanten sind fachlich enthemmte Tatmenschen. Kein Ökonom hätte je den Mut aufgebracht, den Euro in einem wirtschaftspolitisch so disparaten Raum einzuführen, wie ihn Europa nun einmal darstellt. Hierzu bedurfte es einer Leidenschaft, wie sie nur finanzpolitische Laien vom Schlage eines François Mitterrand und eines Helmut Kohl aufzubringen wagten.
Das Projekt war primär getragen von der Hoffnung, dass sich mit der gemeinsamen Währung das friedliche Zusammenleben der Völker ein für alle Mal sichern ließe und der Kontinent zudem an weltwirtschaftlicher Bedeutung gewinnen würde. Daran, wie das mental funktionieren sollte, wie die europäische Öffentlichkeit ohne eine gemeinsame Sprache zusammenfinden könnte, wurde kein Gedanke verschwendet.
Unverdrossen belastet bis heute Finanzminister Wolfgang Schäuble, der einstige Vertraute des Euro-Erfinders Helmut Kohl, den Staatshaushalt, um die gemeinsame Währung mit ausufernder Griechenlandhilfe zu stützen. Rettungsschirme in Folge, kosten sie, was sie wollen! Bedenkenlos spielte der „Euromantiker“ mit der Angst der Bürger, indem er ihnen für den Fall, dass der Euro scheitert, nichts weniger als die größtmögliche Katastrophe, den Untergang der deutschen Wirtschaft, in Aussicht stellte. Alles unbewiesen, ungedeckt. Und dem Zweifler wird dann Angela Merkel ihren Gebetsmühlentext „Wir werden auch in Zukunft das Notwendige tun“ nach dem Prinzip „Augen zu und durch“ verkünden.
Das Zitat des Journalisten Hans Hirschfeld 1931 in der Abenddämmerung der Weimarer Republik erlangt heute uneingeschränkte Aktualität: „Wir sitzen nicht als Zuschauer am Rande eines Vulkans – wir sind mittendrin! Aber wir sehen es nicht. Das ist unsere Tragödie.“