Wie im Film

Von Kristina Kubulin

Zum Beginn der Osterferien suchte ich nach einem Film, den ich mit meinem 13jährigen Sohn gemeinsam anschauen könnte und stieß auf „Die Welle“. Ein Lehrer startet mit seiner Schulklasse ein Sozialexperiment, um zu zeigen, wie Diktaturen entstehen, lautete die knappe Inhaltsangabe. Ich vermutete, dass der Film mir irgendetwas auch über die derzeitige Situation sagen könnte und drückte voller Interesse auf die Start-Taste.

Schüler wählten in einer Politik-Projektwoche einen Kurs über Autokratie. Sie wirkten fast alle sehr gelangweilt, Hitler-Deutschland sei schließlich ganz weit weg und eine Diktatur könne heutzutage keinesfalls mehr entstehen, weil alle viel zu aufgeklärt seien, so der der einhellige Tenor. Dies stachelte Lehrer Rainer an. Er pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Schülern, ließ sich von allen duzen – und schlug ihnen nun ein Experiment vor.

Um nachvollziehen zu können, wie Diktaturen funktionieren, sollten sie im Projektverband einige Voraussetzungen für solch ein Herrschaftssystem schaffen. Die allerwichtigste: einen Kopf, einen Führer. Die Klasse entschied, Lehrer Rainer solle diese Funktion übernehmen. Der nahm die Rolle an und begann sofort, Disziplin einzuführen, ein weiteres Kennzeichen eines autokratischen Systems. Von nun an mussten die Schüler ihn siezen, mussten „Jawohl, Herr Wenger“ sagen und aufstehen, wenn er ihnen das Wort erteilt hatte. Ein Schüler weigerte sich. Herr Wenger stellte klar, entweder man mache mit oder man werde ausgeschlossen. Der Schüler verließ den Unterricht.

Zwei Schülerinnen versuchten sich zu widersetzen, indem sie während ihrer Wortmeldung einfach sitzenblieben. Einige Banknachbarn hatten das neue System sofort verinnerlicht und setzten die beiden Mädchen unter Druck, gefälligst mitzumachen. Widerwillig erhoben sie sich, um zu sprechen. Herr Wenger stellte klar, dies sei zum Wohl aller, der Körper würde beim Aufstehen besser durchblutet, die neue Regel habe also einen Sinn. Es gehe hier um die Gemeinschaft, und die funktioniere nur, wenn alle mitmachten. Um die Gemeinschaft zu perfektionieren, gab die Gruppe sich einen Namen – „Die Welle“ – und entschied sich für eine Uniform: blaue Jeans und weiße Hemden.

Genau eine Schülerin – Karo – erschien am nächsten Tag mit einem roten T-Shirt anstelle eines weißen Hemdes. Weiß gefiel ihr nicht, und sie wurde prompt von ihrem Freund unter Druck gesetzt, sich anzupassen. Karo blieb bei rot – und die Klasse begann sie auszugrenzen. Ihren Beiträgen schenkte niemand Aufmerksamkeit, Herr Wenger ignorierte sie als Mensch. Während Karo sich fremd fühlte, genossen die übrigen die neuen Verhältnisse. Sie wurden anerkannt, belohnt, fühlten sich gesehen und wertgeschätzt. Eine Mitschülerin trumpfte auf und freute sich hämisch, dass nun niemand mehr auf die vorher immer beliebte Karo hören würde und dass sie sich damit abfinden müsse, nicht mehr gefragt zu sein.

Die Schüler gingen derart in der Gemeinschaft auf, dass sie sich auch nach der Schule in weißen Hemden trafen und Parties feierten. „Die Welle“ begann, eine Eigendynamik zu entwickeln. Ein Schüler unterwarf sich den Befehlen von Herrn Wenger nicht nur komplett, sondern bettelte um noch mehr Härte und zeigte sich auch bereit, Schüler zu verraten und zu diffamieren, die sich Fehltritte erlaubten. Zwei weitere Schüler erkoren sich selbst aus, die Regeln zu kontrollieren und verweigerten Karo und einer anderen Schülerin den Eintritt, weil sie keine weißen Hemden trugen.

Karo versuchte, einzelne zu überzeugen, dass das kein Spiel mehr sei und dass sie das Projekt stoppen sollten. Diesen einzelnen ging es aber gut, vielen besser als jemals zuvor, sie beschimpften Karo als eigensinnig, die nur nicht ertragen könne, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt stand und wiesen sie ab. Karo fühlte sich völlig unverstanden und verraten – auch von ihrem eigenen Freund, der sie während einer Auseinandersetzung sogar schlug, um „die Welle“ zu verteidigen….

So könnte ich nun fortfahren. Stück für Stück begann ich Parallelen zu sehen zur gegenwärtigen realen Situation, in der wir nun seit über einem Jahr leben. Alles begann mit einer großen Gemeinsamkeit, einem Virus, das alle und jeden jederzeit tödlich bedrohen konnte. Um klarzustellen, wer uns führte, wurden diejenigen inthronisiert, die uns eindrücklich und täglich an die tödliche Bedrohung erinnerten und harte Maßnahmen forderten, um dem Virus den Kampf anzusagen. Alle anderen wurden mundtot gemacht und sofort ausgeschaltet. Hämisch machte man Experten klein, denen man im Leben vor Corona Vertrauen geschenkt und Raum gegeben hatte. Jetzt wurden sie aufgrund einer anderen Einschätzung ausgegrenzt und diffamiert. Man begann sogar, sie zu bedrohen. Ein Arzt, der seinen Patienten gegenüber die Bedrohung relativierte, musste und muss noch mit einer Anzeige und Berufsverbot rechnen.

Auch die Corona-Gemeinschaft gab sich eine Uniform: die Maske. Plötzlich wurde die Maske hochgejubelt, obwohl – ich unterstelle – jeder (!) wusste, dass ein Fetzen Stoff keine Viren aufhalten konnte. Um es den Maskenträgern einfacher zu machen, wurden gefällige Studien erfunden und die modewussten Inhaber vieler verschiedener Masken mit den unterschiedlichsten Motiven begannen die ihren Verstand Gebrauchenden zu missionieren: jetzt wüsste man doch, dass das ein oder andere Tröpfchen durch den Stoff zurückgehalten würde. Sie fühlten sich sicher und gut in der neuen Corona-Masken-Gemeinschaft. Wer eine trug, gehörte dazu. Wer sich der Maske verweigerte, wurde stigmatisiert und mit Bußgeldern bedroht.

Ich möchte nun nicht jeden einzelnen Schritt wiederholen und aufarbeiten. Worum es mir geht: der Film „Die Welle“ macht die Dynamik und die unterschiedlichen Rollen sehr gut verständlich. Nein, ein System ist nie nur schlecht, es kann gut sein und es kommt darauf an, dass jeder mitmacht.

Gerade am Anfang erklären sich viele bereit zum Mitmachen, weil sie zunächst ihren persönlichen Vorteil sehen: Im Filmein spannendes Experiment, Vorteile einzelner Regeln und schließlich das Gemeinschaftsgefühl – in der Realität die Gesundheit jedes einzelnen, die geschützt werden müsse.

Im Film wie in der Realität wird sehr schnell klar: alle müssen mitmachen. Es funktioniert nur mit Gemeinschaftssinn. Das Experiment scheitert mit Einzelkämpfern und Individualisten an Bord – die Gesundheit kann nicht geschützt werden, wenn sich nicht jeder an die Regeln hält. Im Film wie in der Realität finden sich manche Menschen schneller als andere im System zurecht, gehen darin auf, und manche beginnen, andere zu kontrollieren und zurechtzuweisen. Hier die Hemdenverweigerer, die man als Störenfriede ausgrenzt – da die Maskenverweigerer, die man anfeindet und denen man den Zutritt zum öffentlichen Leben verwehrt. Hier wie da wirft man den Eigendenkern Egoismus vor und hält es für völlig überflüssig, sie zu verstehen.

Im nächsten Schritt wird ein Teil der Menschen so enthusiastisch, dass es ihnen nicht schnell genug geht, bis ein weiterer Befehl des Führers kommt. Sie brauchen es härter und denken sich eigene Befehle aus, natürlich im Sinne des Systems. In der „Welle“ kontrollieren Schüler das Tragen der Uniform und grenzen Nichtmitmachende aus, in der Realität fordern B- und C-Politiker, die in der Vor-Corona-Zeit niemand kannte, härtere Sanktionen für Verweigerer und härtere Lockdowns für das System.

Die Frage nach dem Nutzen und der Sinnhaftigkeit wird hier wie da nicht mehr gestellt. Offensichtliche Kollateralschäden werden zum notwendigen Übel erklärt. Die selbsternannten „Befehlserfinder und -erteiler“ sind Gefangene ihres Systems, ohne es selbst zu merken, weil ihnen endlich die Bekanntheit und Beliebtheit bei den sich Unterwerfenden zuteilwird, von der sie nie zu träumen gewagt hatten, während mancher Weggefährte aus der Vergangenheit nun als Andersdenkender in der letzten Ecke steht. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Wer mitmacht, wird belohnt, wer sich weigert, wird bestraft.

Ein Teil der Menschen hat hier wie da ein Problem, Befehlen zu gehorchen, stellt den Sinn in Frage. Bei manchem reicht es, wenn ihn ein Mitmensch einmal ermahnt. Er beugt sich, er mag nicht auffallen, er mag nicht anecken. Nicht jeder Mensch ist stark genug, um Auffallen und Anecken aushalten zu können. Im Film sind das zwei Schüler, die anfangs den Unterricht verlassen hatten, dann aber – als sie an ihre Schulnote dachten – reumütig zurückkehrten. Im Leben sind es die Menschen, die zwar wissen, dass die Coronamaßnahmen inzwischen ein nicht zu rechtfertigendes Maß erreicht haben, die aber trotzdem mitmachen und sich an alle Regeln halten.

Der weitaus kleinste Teil umfasst diejenigen, die sich bewusst dagegen entscheiden, mitzumachen, weil sie es für falsch halten. Da sie schnell ausgegrenzt werden, haben sie die Gelegenheit, das System von außen zu betrachten. Ihnen fallen die Nachteile und Kollateralschäden ins Auge, für sie lassen diese sich nicht mit den als notwendig erklärten Systemregeln rechtfertigen. Sie fühlen sich unwohl, ausgeschlossen, haben mitunter Angstzustände. Im Film ist das Karo. Es wäre verlockend, ein weißes Hemd anzuziehen und auf die Party zu gehen. Doch Karo findet, das Spiel geht zu weit, sieht die Gefahr und entscheidet sich gegen die Party, auch wenn sie sich damit verlassen und allein fühlt. Im Leben sind das diejenigen, die sich jetzt beim Lesen selbst erkennen. Nein, es geht ihnen nicht gut. Sie möchten nicht allein und verlassen sein, sie sind beunruhigt und haben Angst, aber sie wissen: es wäre für sie noch schlimmer, gegen die eigene Einsicht zu handeln.

Betrachtet man den Film „Die Welle“ weiter, lässt sich nichts Gutes erahnen. Es wird klar: Nein, das hört nicht einfach auf. Selbst als das Experiment zu Ende ist, weil die Projektwoche zu Ende ist, wollen sich die meisten nicht damit abfinden. Sie wollen weitermachen, weil sie trotz einiger persönlicher Opfer endlich jemand sind und sich wahrgenommen fühlen, weil das Gemeinsame ihnen einen Sinn gegeben hat, den sie vorher nicht erkannt hatten. Im Film endet das mit dem Versuch eines Schülers, das Fortführen der Welle mit einer Pistole durchzusetzen.

Und im Leben? Ich bin sicher: nein, es wird auch hier nicht einfach aufhören. Es gibt zu viele, die profitieren, die sich psychisch aufgehoben und sicher fühlen, die sich einfach bei der Mehrheit wohler fühlen, denen der Gedanke, zur Minderheit zu gehören, Angst macht, die aufgehört oder niemals begonnen haben zu hinterfragen, sich Zahlen anzuschauen oder Belege einzufordern, die bereit sind, andere auszuschalten, um das Fortlaufen des Coronasystems zu sichern. Die eigens ernannten „Befehlserfinder“ sind unermüdlich am Werk. Es vergeht keine Woche, in der sie sich nicht neue Regeln ausdenken. Die Schlinge für die Nichtmitmachenden wird enger. Wer keinen Sinn darin sieht, sich impfen zu lassen, weil die Risiken, die mit einem unzureichend getesteten Impfstoff verbunden sind, höher sind als das persönliche Risiko, an Corona zu sterben, gerät immer stärker unter Druck und riskiert, komplett aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.

Das nächste, was ansteht, sind (Selbst-) Tests in Schulen. Zunächst sollten sie freiwillig sein, die ersten Systementhusiasten melden sich nun zu Wort und fordern, sie zur Pflicht zu machen, andernfalls dürften Kindern nicht mehr die Schule besuchen. Wer der Meinung ist, Kinder seien keine Krankheitsbeschleuniger, würden selbst nicht schwerkrank werden und man solle sie endlich in Ruhe lassen und aufhören, sie verrückt zu machen, der muss womöglich in Kauf nehmen, dass die eigenen Kinder ausgeschlossen werden. Einige werden stark genug sein und auch das stemmen und auch ihre Kinder zu starken Menschen erziehen, andere werden vermutlich daran scheitern.

Ich weiß nicht, welche Maßnahmen und Bedrohungen noch erfunden werden. Jedenfalls erscheint es mir so, dass diese Unwägbarkeit für Menschen, die sich sicher an Bord fühlen und dort bleiben wollen, kein riesiges Problem ist. Dass sie aber denen, die auf diesem Schiff nicht mitsegeln, weil sie es für einen unwiderruflichen Fehler halten, mitunter schlaflose Nächte bereitet. Sie müssen ihre eigene Stärke erkennen, sie trainieren und sich im Glauben schulen, den für sich richtigen Weg zu gehen.

Ich kann mir nicht ausmalen, ob und wie das Coronasystem endet – ich wünsche mir friedvoll, dass sich das Leben in diesem Punkt vom Film unterscheidet und es am Ende keine Toten gibt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf www.augenaufunddurch.net.

 

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